Von Tenever nach Schwachhausen fährt die Straßenbahn in 26 Minuten. Mit dem Auto sind es 13 Kilometer. Beide Ortsteile trennt mehr als nur ihre räumliche Distanz, findet Lehrer Hendrik Bunke. „Man weiß um die soziale Spaltung der Stadt. Das kann man an allen Ecken und Enden sehen“, sagt er. Bunke spricht von Armutsberichten und Wahlbeteiligung.
Seit einem halben Jahr ist Bunke Klassenlehrer an der Oberschule Koblenzer Straße, Haltestelle Tenever Zentrum. Vorher war der Politik- und Sportlehrer Referendar am Kippenberg-Gymnasium, Haltestelle St.-Joseph-Stift. Zwei Welten: Laut Statistik sind die Menschen aus Tenever durchschnittlich jünger und ärmer als im Ortsteil Schwachhausen. Über sein Projekt „Bremen Breaking Boundaries“ (etwa: Bremer Grenzen durchbrechen) will Bunke nun Schüler aus beiden Ortsteilen miteinander in Kontakt bringen.
Nach Angaben des Lehrers ist die Oberschule Koblenzer Straße eine klassische Brennpunktschule, "wir nennen es Schule mit besonderen Herausforderungen“. Die Bildungseinrichtung habe sich jedoch auf den Weg gemacht, Stundenpläne verändert, sei Inklusionsschule geworden und nutze digitale Lernwerkzeuge.
Ungezwungene Atmosphäre
An diesem Morgen scheint die Sonne auf den Nachkriegsbau in Tenever. Schüler und Lehrer begrüßen sich herzlich, es herrscht eine ungezwungene Atmosphäre. Die unterschiedlichen Herkünfte, von denen Bunke spricht, wenn er über „besondere Herausforderungen“ redet, man kann sie auch zwischen Schülern und Lehrern spüren: „Willst du mal Opernsängerin werden?“, ruft ein Lehrer einer singenden Schülerin auf dem Pausenhof zu. „Nein, ich will keine Oma sein. Ich werde Sängerin“, antwortet sie.
Als frisch examinierter Lehrer will Hendrik Bunke „Schule verändern“. Deshalb ist er hier: „An einer anderen Schule könnte ich das nicht.“ Nach mehr als 20 Jahren Pause zwischen Lehramtsstudium und Referendariat hat er sich dazu entschieden, in den Schuldienst zu gehen. Und er hat sich „Bremen Breaking Boundaries“ ausgedacht, dafür einen Blogbeitrag geschrieben, getwittert und – ganz einfach – losgelegt. Das Projekt sei weniger formell und weniger institutionalisiert als andere, „etwas mehr grassroots“, also von der Basis, von der „Herausforderung“ her gedacht. So etwas könne jeder tun, findet er. Für das Projekt lädt Bunke Menschen aus innenstadtnahen Stadtteilen in seinen Unterricht ein. An diesem Tag ist das der Spielerfinder Friedemann Friese.
Im Klassenraum sammelt sich Bunkes neunte Klasse. Es ist ein funktionaler Raum mit Schiebetafel und Stundenplan an der Wand. Die gut 20 Schüler schieben auf Bitte des Lehrers die Tische an die Wand und stellen ihre Stühle in einen Kreis. Spielemacher Friese setzt sich zwischen sie und beginnt, von sich und seiner Arbeit zu erzählen. Mit grünen Haaren und grüner Jacke sticht er aus dem Schwarz-grau-weiß der Schüler heraus.
Als Spieleerfinder vertreibt Friese seine Spiele im eigenen Verlag. Sein bekanntestes Spiel ist „Funkenschlag“, später werden die Jugendlichen es ausprobieren. Die Neuntklässler haben viele Fragen an den Unternehmer: Wie er auf seine Ideen käme, ob er gerade ein neues Spiel entwickle und wie er das Erfinden gelernt habe. Auch Geld ist den Jugendlichen wichtig. „Sind Sie reich?“ und „Wie hoch ist ihr Umsatz?“, wollen sie wissen.
Lehrer Bunke will seinen Schülern zeigen, was aus ihnen werden kann. Er will „kleine Samen im Kopf setzen, dass die Jugendlichen sehen: Man kann mit grünen Haaren und abgebrochenem Studium ein erfolgreiches Leben führen.“ Die Kinder aus Tenever kämen zu wenig raus, sowohl geografisch als auch aus ihrem sozialen Milieu. Die Milieugrenzen überwinden – das müsse aber in beide Richtungen gelernt werden.
Bis zum Sommer will Bunke organisieren, dass seine Schüler mit denen von seiner ehemaligen Schule, dem Kippenberg-Gymnasium, zusammentreffen. Ihm geht es um einen Austausch auf Augenhöhe. Denn was ist weit weg? Wer lernt von wem? Das sei eine Frage der Perspektive. Die Schüler des Kippenberg-Gymnasiums „wohnen ja total weit weg“, findet nämlich Rabia. Die 15-jährige lebt in der Vahr, dort und in Tenever ist ihr Lebensmittelpunkt. „Viele, die auf das Kippenberg gehen, wissen gar nicht, dass unsere Schule existiert. Aber fast jeder kennt das Kippenberg“, sagt sie.
Friedemann Friese und Hendrik Bunke leben nicht weit entfernt voneinander, kennen sich privat über Freizeitaktivitäten der Kinder. So entstehen Netzwerke. Bunke versucht seine Netzwerke für die Schüler von der Koblenzer Straße nutzbar zu machen. Er selbst kommt aus einem Nichtakademikerhaushalt. „Ich weiß, wie schwer es ist, wenn man das nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat“, sagt er. „Die Kinder hier haben die gleichen Chancen verdient, wie die Kinder auf dem Kippenberg.“